Landflucht: Eine persönliche Geschichte

Gestern Abend wurde Im Zentrum über das Problem der Landflucht gesprochen. Landflucht bezeichnet das Phänomen, dass vor allem junge Menschen aus den Dörfern in die Städte ziehen.

Die Probleme, die dadurch entstehen, liegen auf der Hand:

  • Die Bevölkerung am Land „veraltet“
  • Der Raum in den Städten wird enger, was zu Wohnungsknappheit und teuren Mieten führt
  • Am Land fehlen die Arbeitsplätze
  • Am Land findet ein Großteil der Landwirtschaft statt, aber die nächste Generation ist nicht bereit oder nicht fähig diese Betriebe zu übernehmen. Kleinbauernsterben ist unter anderem eine Folge.
  • Das Bildungs-, Infrastuktur- und Kulturangebot am Land ist meist gering.
  • Förderungen gehen meist an dicht besiedelte Gebiete, Dörfer erhalten meist wenig
  • Gut ausgebildete Menschen zentrieren sich in den Städten
  • Das Entstehen eines politischen Gefälles wird begünstigt (Stadt = links & Dorf = rechts)

Aber warum gehen die Jungen wirklich weg und was hat es mit der politischen Stadt- und Landkluft auf sich? Versuchen wir, die Lage an einem persönlichen Beispeil zu erörtern:

Warum zog ich in die Stadt?

Weil es am Land keine Möglichkeit gab eine höhere Ausbildung (Universität) zu besuchen. Aber auch, weil damals noch stark zwischen „männlichen“ und „weiblichen“ Lehrberufen unterschieden wurde. Andere Mädchen in meiner Schule wollten typisch „männliche“ Berufe lernen, jedoch gab es keine Chance für sie am heimischen Arbeitsmarkt. Ein Hauptgrund dafür war, dass die Firmen für Mädchen extra Umkleidekabinen und Toiletten einbauen mussten und das war ihnen ein Lehrmädchen nun mal nicht wert. Also entweder wurde es ein anderer Lehrberuf, oder der gewünschte „männliche“ Beruf wurde in der Stadt gelernt.

Ein Weiterer Grund ist die Auswahl an „weiblichen“ Lehrberufen. Frisör*in, Verkäufer*in, Kellner*in oder Sekretär*in machten dabei 90% der verfügbaren Lehrberufe aus, wobei der Trend bei Sekretär*innen bereits eindeutig in Richtung Matura ging. Das heißt, eine Lehrstelle als Sekretärin war damals schon sehr selten, da HAG Abgänger*innen dieser Sektor übernahmen. Was die Sparten Handel, Dienstleistung und Gastronomie gemeinsam haben ist, dass wenig bezahlt wird, die Arbeitszeiten eher schlecht sind und die körperliche Belastung meist hoch.

Dementsprechend wusste ich schon mit 14 Jahren, dass ich entweder einen unterbezahlten Beruf lernen kann, der mich körperlich an die Grenzen treiben wird und mich vermutlich in eine Abhängigkeit (vom Partner, Kindesvater, etc.) führen wird, oder dass ich Matura und Uniabschluss in Erwegung ziehen muss. Natürlich wäre mir für das Erste das Geld einer Lehrstelle lieber gewesen, doch langfristig konnte nur Ausbildung meinen Lebensstandard verbessern.

Warum kam ich immer wieder nach Hause?

Während meinen ersten Jahren, kam ich regelmäßig jedes Wocheende zurück ins Dorf. Dies hatte den einfachen Grund, dass ich in der Stadt nicht wirklich jemanden kannte. Die Anonymität ist groß, was ich sehr mag. Aber diese Anonymität macht es auch schwer Anschluss zu finden. Meine sogenannten „Freunde“ waren im Dorf, und ich lebte zwischen den Welten und gehörte nirgends dazu.

Einerseits fand ich mich in der Stadt nicht zurecht und nutzte das Angebot nur selten. Andererseits warfen meine „Freunde“ am Land mir vor, dass ich jetzt glauben würde ich sei etwas besseres nur weil ich studierte. Dabei glaubte ich nie, ich sei etwas Besseres. Im Gegenteil, ich fühlte mich zu dumm für die Akademik, da einige Professoren auf der Uni immer wieder ihre Abneigung gegenüber „Arbeiterkindern“ kund taten. Aber auch „zuhause“ im Arbeitermillieu passte ich nicht mehr rein, was doppelt ironisch ist, da ich mein ganzes Studium über arbeiten musste. Anders hätte ich mir das Studium nicht leisten können, was besagte Uniprofessoren immens störte. Diese Professoren sagten mir, ich sollte mich entscheiden „Studieren oder Arbeiten“! Ich war also weder das eine noch das andere, und wurde von keiner Seite wirklich akzeptiert.

Das Links-Rechts-Gefälle:

Je mehr Wissen ich mir aneignete, desto schlechter wurde ich am Land behandelt. Dies führte dazu, dass ich anfing das Angebot in Graz zu nützen. Langsam fühlte ich mich in der Stadt und der Anonymität wohl. Langsam lernte ich mich in der Akademik zurecht zu finden und fand Gefallen am kulurellen Angebot der Stadt. Trotztdem war ich ein Landkind und liebte die Natur. Diese Naturverbundenheit, meine Eltern und Großeltern, sowie Verpflichtungen in ländlichen Vereinen (z.B. Freiwillige Feuerwehr), ließen mich immer noch regelmäßig in meinen Heimatort fahren. Jedoch wurden die Begegnungen mit sogenannten „Freunden“ immer sukriler.

Ich weiß nicht was genau es war, doch ich entwickelte mich für einige zum Hassobjekt. Ich vermute, dass es eine Mischung aus Unwissenheit, Minderwertigkeitskomplexen und toxischer Männlichkeit war. Anfänglich bekamen ich und meine Freundinnen (damals ebenfalls Studentinnen) abwertende Spitznamen verliehen. Ich wurde als Parasit geschimpft, angespuckt und mit Gewalt (teilweise sexualisierter Gewalt) bedroht. Gerade meine politische Einstellung war vielen ein Dorn im Auge. Wobei dazugesagt werden muss, dass ich mich nie zu meinem Wahlverhalten geäußert habe. Das wohl einschneidenste Ereignis fand vor 2 Jahren statt:

Ich arbeitete für meine Feuerwehr beim Fest und verkaufte in der Disco Klopfer. Plötzlich ergriff mich ein alter Bekannter. Er war stark alkoholisiert und umfasste mit seiner Hand meine Kehle. Dabei würgte er mich nicht, doch er hätte es jeder Zeit gekonnt. Er zwang mein Gesicht nah an seines und schrie mich an:

„Du scheiß linke Zecke! Solche wie du gehören alle erschossen. Umbringen sollt man Menschen wie dich! Du Verräterin! Scheiß Kommunisten Schwein!“

Es brauchte die Mithilfe eines anderen Discobesuchers um ihn von mir weg zu bringen. Das war eine schmerzliche Erfahrung, und hat mir gezeigt, wie unwillkommen Menschen wie ich am Land sind. Dabei geht es nicht um zugezogen, oder dort geboren. Das Problem liegt oft in der politischen Einstellung begraben, was nur beweist, dass das politsche Gefälle durchaus ein reales Problem ist. Solche Begegnungen waren nämlich keine Einzelfälle, sondern waren eher an der Tagesordnung.

Warum ziehen gerade junge Frauen weg?

In meinem Fall war es eine Mischung aus Perspektivenlosigkeit was die Ausbildung betrifft, aber auch eine Übermächtigkeit des Männlichen. Patriarchale Strukturen sind am Land noch weit stärker verbreitet, was es gerade für selbstbewusste Mädchen sehr schwer macht dort zu überleben bzw. sich wohl zu fühlen. Ich hatte immer schon eine Meinung und interessierte mich für „männliche“ Themen wie Politik. Das passte vielen älteren Männern nicht, was sie dazu verleitete mich zu beleidigen. Ein Beispiel dafür passierte in einem Lokal in dem ich neben der AHS jobbte. Ich saß an der Theke und diese Tatsache alleine störte einen regionalen Einflussnehmer sehr. Nachdem ich mich auch noch zur politischen Lage äußerte, als einzige Frau in einer Männerrunde, platzte ihm der Kragen:

„Was glaubst du überhaupt wer du bist? Stitz da an der Bar als wärst ein Mann, und dabei hast du gar nichts zu sagen. Wegen Gören wie dir geht unsere Gesellschaft zu Grunde. Geh heim vor den Herd wo du hingehörst, oder ich prügel dich dort hin. Damit du lernst wo dein Platz ist!“

Aussagen, die es nicht gerade leicht machen sich wohl zu fühlen. Hinzu kommen noch zahlreiche Vorkommnisse (immerhin hab ich gekellnert) der sexuellen Übergriffigkeit. Einmal schnell auf den Busen oder den Arsch, wird ja meist nicht weiter geahndet und ist vor den anderen Männern oft ein gern gesehener Scherz. Selbst bei versuchter Vergewaltigung Minderjähriger wird in machen Dörfern (so wie in meinem) noch ein Auge zugedrückt und munter Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Vor allem wenn der Täter ein reicher Sohn eines einflussreichen Landwirts ist. Das alles sind Erfahrungen, die junge Frauen dazu bringen, dem Land den Rücken zu kehren. Die Folgen sind, dass der Markt an potentiellen Partnerinnen nicht mehr gesättigt ist. Auch die Geburtenrate geht dadurch zurück und die „Veralterung“ steigt an. Da Frauen statistisch gesehen auch die bessere Ausbildung haben, bleibt das Land auch ohne gut ausgebildete Fachkräfte zurück (und diese werden auch am Land gebraucht, genauso wie Handwerksberufe gebraucht werden).

Nie wieder Landleben?

Das ironische bei der Geschichte ist, dass ich persönlich sowohl das Landleben als auch das Stadtleben liebe. Die Stadt hat Vorteile, vor allem für junge Menschen. Aber ich bin und bleibe ein Landei. Ich möchte einen Garten haben und einen Wald in den ich spazieren kann. Ich mag es wenn ich meine Nachbarn kenne, und ich mag die Dorfgemeinschaft. Das Problem ist nur, dass ich mich in der Dorfgemeinschaft nicht sicher fühle. Ich würde gerne wieder aufs Land, jedoch weiß ich nicht ob ich wieder zurück kann. Natürlich gibt es mehr Dörfer als mein Heimatdorf, und ich könnte in alle Dörfer ziehen. Es muss ja nicht das Heimatdorf sein…

Jedoch sehe ich ein anderes Problem beim Zuziehen in unbekannte Dörfer. Als ich noch in meinem Heimatdorf wohnte, kamen einige neue Menschen zu uns. Aber egal wer sie waren, egal wie ihre politische Einstellung war, Anschluss zur Dorfgemeinde fanden sie schwer. Ihnen wurde vorgeworfen sich nicht in die Dorfgemeinschaft integrieren zu wollen oder sie wurden als komisch abgestempelt wenn sie es doch taten. Es scheint also fast so, als könnten Zugereiste nicht von der Dorfgemeinschaft akzeptiert werden.

Fazit Landflucht:

Landflucht ist ein echtes Problem, dass auch von der Landbevölkerung mitgetragen wird. Durch harsches Verhalten und sehr konservative Ideale, ist das Landleben sehr ausschließend. Das bedeutet nicht, dass das Landleben nicht wunderschön sein kann. Das bedeutet nur, dass meine Erfahrungen doch sehr brutal waren und meine Erfahrungen sind und bleiben eine indivuduelle Geschichte. Nicht jedes Dorf ist gleich, und nicht jeder Mensch hat gleiche Erfahrungen wie ich gemacht.

Die Stadt hat mich wiederum aufgenommen, als ich kein Zuhause mehr hatte. Ich wünschte mir, es würden mehr Perspektiven am Land geschaffen werden, damit Menschen die sich dort Zuhause fühlen nicht abwandern müssen. Ebenso wünsche ich mir, dass die Landbevölkerung etwas inklusiver wird und nicht jeden Zugezogenen als „komisch“ abtut. Auch der Umgang mit Mädchen und Frauen sollte sich ändern, wenn erwartet wird, dass Frauen am Land bleiben. Ich würde gerne zurück aufs Land, und ich hoffe, dass ich es auch irgendwann wieder schaffe. Wenn es dann soweit sein sollte, hoffe ich, dass Bedingungen für Frauen und Familien besser sind (Ausbau Kinderbetreuung und Infastruktur).
Das Land ist attraktiv, nur sollten gewisse „Traditionen“ hinterfragt werden, wenn man nicht möchte, dass das eigene Dorf zur Geisterstadt wird.

Gemeinsam sind wir stark: Unterstütze re-think!

Katrin Graßl

Autorin & Sprachwissenschaftlerin, Feministin, Anarchistin, Anti-Kapitalistin, Historikerin & Pädagogin

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